Das Bildungssystem und Wir ?

Das Bildungssystem und Wir?

 

von Khai Phung

 

Ich bin als Sohn eines Vaters aus Hanoi und einer Mutter aus Schwerin im Jahr 1986 in Berlin geboren. Allein durch diese Konstellation und diesen Zeitpunkt gibt es mindestens zwei Begriffe, welche meine Generation im Allgemeinen und meine eigene Biographie im Speziellen beschreiben. Zum einen bin ich ein ‘Wendekind’ und habe zum anderen einen Migrationshintergrund.

Aber lasst mich von vorne beginnen. Meine deutsche Oma und mein vietnamesischer Opa unterrichten. Sie durfte nach der Wende 1989/90 nicht mehr unterrichten; er war Professor für Landwirtschaft. Beide Eltern studierten sogar, aber konnten entweder lange nicht oder sogar niemals in ihrer jeweiligen Fachrichtung ebenfalls aufgrund der Deutschen Wiedervereinigung arbeiten. Die Wirtschaftsstruktur ließ bereits damals einfach zu wenige Perspektiven zu. Eingeschult wurde ich im August 1993 in dem Schulgebäude, welches Jahre später als Die Arche sehr bekannt wurde.

Durch das gemischte Elternhaus habe ich sogar etwas gemein mit bekannten Persönlichkeiten wie etwa Bob Marley oder Bruce Lee. Migrantisch, aber irgendwie auch nicht. Auch wenn ich solch Superstars bewundere, lernte ich die realistischen Vorbilder in meinem Leben meist direkter kennen – und viele auf den verschiedenen Stationen meines wirklich nicht geradlinigen Bildungsweges. Sogleich möchte ich daher auch sagen, dass mir wiederum besonders drei Menschen im Gedächtnis blieben. Sie alle besaßen beziehungsweise besitzen die Fähigkeit, komplexe Inhalte auf das Simpelste herunter zu brechen.

Im April 2020 beendete ich das Studium der Urbanen Geographie und bin, alles in allem, daher wirklich sehr froh über die Bildung, welche ich persönlich erhalten habe. Nicht so simpel ist es hingegen scheinbar dennoch, über die Themen der Migration oder ‘die vietnamesische Identität’ weder an sich noch im Bezug auf das Bildungssystems, zu sprechen. Ich möchte also anhand meiner eigenen Biografie gerne ein anschauliches Beispiel dafür geben und dabei sowohl das mögliche als auch das unmögliche Verhältnis zwischen migrantischen Menschen und den Schulen in Deutschland versuchen zu beschreiben.

Ich mochte die Grundschule hauptsächlich wegen des persönlichen Zusammenhalts, der sich bis in die 6. Klasse verfestigte. Was mir jedoch schon früh von meinen Eltern mitgeteilt wurde, war, dass die Wende als großes historisches Ereignis auch meinen Unterricht merklich beeinflusste. Damals, eigentlich bereits während der Kindergartenzeit, verließen nämlich viele der Erzieher*innen und Lehrer*innen die ehemalige DDR. So gab es in meinem Jahrgang etwa kaum eine wie heutzutage übliche Vorschulbildung. Auch die Lehrpläne waren noch nicht sonderlich entwickelt. Dennoch standen natürlich Deutsch, Mathematik, Biologie oder Sport ganz normal auf der Tagesordnung.

Die eigenen Höhepunkte dieser Zeit waren für mich eindeutig die Klassenfahrten oder die Schul- und Sportfeste. Neben meiner älteren Schwester und mir gab es als weitere Kinder mit Migrationshintergrund damals nur noch eine deutsch-syrische Diplomatentochter und einen vietnamesischen Jungen der anderthalben Generation, welcher ab der 3. Klasse nach Berlin und an diese Grundschule kam. Für die Schuljahresabschlussfeiern bereiteten „Wir”, die Familien mit vietnamesischem Migrationshintergrund, sodann auch mal die klassischen Frühlingsrollen oder ähnliche Gerichte vor.

Der eigene Bezug zu Vietnam spielte bei den Freundschaften, welche teils bis in die Kindergartenzeit reichten, damals eigentlich so gut wie nie eine Rolle. Sowohl Spaß als auch Trauer fühlten sich einfach immer normal an und zwar insbesondere dann, wenn einer der Freunde die Schule verließ. Andererseits aber wurde dieser neue Junge auch sehr schnell ein wichtiger Freund für mich und das womöglich alleine deshalb, eben weil er aus Vietnam kam.

Meine ersten bewussten Reisen nach Vietnam fanden 1992 und 1994 statt. Endlich umarmten wir uns als Familie alle (wieder), ich lernte sehr viel Neues kennen und eigentlich auch bereits eine der wichtigsten Lektionen meines Lebens: Alles, was mir in Vietnam gefällt, könnte ich ja auch in Deutschland nach- bzw. vorleben – und andersrum – sagte mein Vater. Ich verstehe diese Aussage bis heute als einen lebensbejahenden Ausdruck, der die Möglichkeit zur Veränderung und Verbesserung betont. Eingeschränkt waren meine Schwester und ich einzig, da wir als Kinder nicht Vietnamesisch lernten.

So schön die Grundschulzeit auch war, fiel mir der Wechsel an die Oberschule dennoch ziemlich schwer. Neben besagtem Freund aus der Grundschulzeit und zwei anderen Russlanddeutschen waren „Wir” mit Migrationshintergrund auch in diesem Jahrgang schlicht nicht sonderlich viele. Auch solch Fragen wie: Wo kommst du bzw. die Familie her, das implizite oder gar explizite Infrage stellen vor allem auch der deutschen Identität war ich bis dahin nicht gewohnt. Bis heute frage ich selbst, übrigens, eine*n Jede*n beim Kennenlernen höchstenfalls danach, aus welchem Bezirk, Dorf oder Stadt die Person mir gegenüber kommt oder wohnt. Ich finde, diese Frage liefert mir konkretere und vor allem respektvollere Informationen.

Hauptsächlich aufgrund familiärer Probleme, denke ich, ging ich später auf eine Realschule ab. Auch hier gab es neben mir eigentlich nur Trang als einzige, weitere vietnamesische Mitschülerin. Einen migrantischen Lehrer oder Lehrerin hatte ich bis dahin nie gehabt – und das sollte sich auch bis zum Bachelorstudium an der Humboldt-Universität zu Berlin nicht groß ändern. In der Zwischenzeit aber absolvierte ich sogar noch eine kaufmännische Berufsausbildung und holte das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nach.

Dies ist es auch, was ich als ein erstes Fazit ziehen möchte: natürlich hätte ich mir persönlich gerne mehr Erfahrungen, insbesondere im Schmelztiegel Berlin, mit migrantischen Lehrer*innen und Schüler*innen erhofft, obwohl es mir — wie wahrscheinlich den Wenigsten — nie darum ging, besonders exponiert dazustehen, sondern einfach nur um das Lernen.

Während meines Studiums lebte ich erstmals für längere Zeit in Vietnam und konnte dabei einen besseren Einblick in den Schulalltag meiner Cousins und Cousinen gewinnen. Die vietnamesischen Schuluniformen finde ich dabei gar nicht so verkehrt, weil sie meinem Empfinden nach etwas mehr Gleichheit bzw. weniger Distinktion unter den Kindern (und deren Eltern) zu vermitteln scheinen. Befremdlich dort fand ich hingegen Lerninhalte wie Waffenkunde oder das schiere Auswendiglernen von historischen Ereignissen. In anderen Worten lässt sich der disziplinäre Charakter des vietnamesischen Bildungssystems aufgrund der autoritären Staatsform viel leichter erkennen als hier in Deutschland.

Vielleicht verschwamm der Charakter der Schulen als Disziplinarsystem in einem föderalistischen Lande wie Deutschland, wo es keine Schuluniformen mehr gibt und jedes Bundesland ein Stück weit sein eigenes Ding macht?

Die Orientierung an Disziplin bestätigt sich ja aber nicht zuletzt auch in dem ’positiven’ Vorurteil, dass deutsch-asiatische Schüler*innen im Notenvergleich wiederholt besser da stünden als deutsch-arabische oder deutsch-türkische Kinder — und wenn daran der Integrationserfolg festgemacht wird.

Die allgemeineren Probleme bei der Bildung und Erziehung liegen, glaube ich, aber auch nicht unbedingt am Unwillen der verantwortlichen Politiker*innen und Lehrer*innen, sondern wirklich eher daran, dass das Bildungssystem eben als ein Disziplinarsystem erschaffen wurde. Für Die Zeit und im Bezug auf Berlin beschrieb Julia Friedrichs in ihrem preisgekrönte Artikel „Die Straße der Ungerechtigkeit / Die geteilte Straße“ und, wahrscheinlich mehr nebenbei denn geplant, dabei die Probleme migrantischer Schulkinder und ihrer Familien in Deutschland. Ich erwähne diesen Artikel aus einem bestimmten Grunde. Es ging der Autorin des Artikels wohl ähnlich wie mir: Sie wollte gar nicht primär über Migration schreiben. Letztlich beschrieb sie nämlich eine allgemeinere Bildungskluft und hebt damit auch nur die unterschiedlichen Verwirklichungschancen zwischen allen Menschen hervor mit Hinweisen darauf, was konkret verbessert werden könnte. Migration ist dabei ein Faktor. Das Bildungssystem selbst aber produziere bereits von ganz alleine eine „[. . . ]homogene Gruppe von Bildungsverlierern.” [1]

Dieses konkrete Problem, trotz des Wunsches eigentlich aller Eltern für ihre Kinder das Beste zu wollen und es dennoch nicht zu erreichen, ist leider real und lässt sich auf strukturelle Benachteiligungen zurückführen. Allein aus diesen Beobachtungen heraus aber ergeben sich für mich persönlich dann jedoch noch ganz neue Prioritäten, wenn ich gezielter über Migration – egal ob in der Vergangenheit, jetzt, oder in der Zukunft – spreche. Denn dies möchte ich in aller Demut betonen: Ja, Migration ist ein wichtiger Faktor und daher sollten bestimmte kulturelle Eigenheiten, wie vor allem auch Sprachkenntnisse, insbesondere im Bildungssystem eine besondere Beachtung finden. Alle Erfahrungswerte zeigen jedoch aber auch, dass allgemeinere Bedürfnisse für alle Familien, egal ob modern oder traditionell, ortsunabhängig von Bedeutung sind. Dazu zähle ich etwa sichere Schulwege, gesunde Verpflegung und keine überfüllten Klassenräume.

Es brächte daher nicht nur wesentlich mehr, Migration einfach nicht mehr zu problematisieren, sondern diese schlicht und ergreifend als das Normalste der Welt zu betrachten – und sich dann aktiv um die soziale Inklusion aller Lernenden zu bemühen. Dabei ignorierte solch Herangehensweise auch mitnichten die kulturellen Hintergründe, sondern würde im Gegenteil das relativ geschlossene Bildungssystem höchstwahrscheinlich sensibler reagieren lassen auf die allgemeinen und konkreten Probleme aller Schüler- und auch der Lehrer*innen.

Ein prägnantes Beispiel stellt dabei insbesondere auch den Abschied aus dem Bildungssystem selbst dar. Wohl die allermeisten Menschen stellen sich die Frage, wie das Leben anschließend weitergeht. Viele junge Menschen gehen zunächst, wenn nicht auf Sinn, aber zumindest auf die Suche nach Erfahrungen und wägen dabei ihre Verwirklichungschancen ab. Zumindest habe ich eine starke Vermutung, weshalb formale Bildungsabschlüsse dabei meist einfach nur als Mittel zum Zweck begriffen werden – anstatt die Lerninhalte und soziale Kompetenzen selbst in den Mittelpunkt zu rücken.

Eingangs erwähnte ich bereits, dass ich ein wenig etwas mit Bruce Lee oder Bob Marley gemeinsam haben könnte. Denke ich aber an sie, schaue ich selbst aber gar nicht so sehr auf ihre Herkunft oder ihre Werke, sondern bewundere eher ihre Kommunikationsfähigkeiten. Sowohl mit als auch ohne Worte sprachen beide nämlich aus ihrer ganz eigenen Position heraus —

Wichtig dafür erscheint mir im Zusammenhang mit dem Bildungssystem, wie angedeutet, zunächst die Selbstreflexion der Bildungsinstitutionen in ihrer Rolle als Disziplinarsysteme. Auch wünschte ich mir dann von dieser Gesellschaft nicht mehr nur eine explizite Anerkennung eines jeden Menschen unabhängig vom Zusammenhang mit der individuellen Leistung, sondern sogar die prominente Vermittlung des Konzepts der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) von Marshall B. Rosenbaum. Dieses Konzept könnte es ermöglichen, dass alle Schüler*innen und Erwachsene besser wissen, wie sie aus der ganz eigenen Perspektive heraus und ohne ‘statische Sprache’ kommunizieren können – ob migrantisch oder nicht. [2]

An allen meinen Schulen war die Geborgenheit zwar relativ gegeben, aber das Sprechen mit der eigenen Stimme wurde weder dort noch an einer anderen Schule sonderlich gefördert. Den Lehrkräften selbst aber könnte die Gewaltfreie Kommunikation einen Lösungsweg aus ihrer eingeschränkten Situation bieten, wenn die Erwartungen und Herausforderungen der komplexen Welt sie und alle Schüler*innen betreffen. Der Biologielehrer sagte etwa, dass es ihm Leid tue, dass er den Namen Trang nicht korrekt aussprechen könne. Daraufhin hörten die Witze über ihn auf. Viele Lehrer*innen erklären, dass ihnen selbst der Frontalunterricht genauso wie überfüllte Klassenräume unangenehm sind. Mit dem Klassenaufstieg erhöhten sich dann logischerweise die Anforderungen. Ferner steigt die innere wie soziale Erwartungshaltung beim (Wieder-)Einstieg in das Berufsleben noch weiter.

Dies alles offenbart für mich daher auch einen eher widersprüchlichen Charakter des Bildungssystems und allem, was danach kommt: Zeitlebens müssen sich alle Menschen über ihre Leistungen definieren. Ja, migrantische Menschen oft sogar doppelt und dreifach. Letzteres führt sogar zu einem Phänomen namens „kulturellem Kurzschluss“. Dieser Begriff meint, dass Migrant*innen sich extra Statussymbole wie teure Autos beschaffen oder leihen, um z.B. vor Banken als kreditwürdig zu gelten oder von  Ursprungsdeutschen stärker geachtet zu werden. Doch anstatt Anerkennung dieser Symbolik führt dies selbst wiederum zu neuen, negativen Vorurteilen. [3]

Mit dem Wissen über die GFK und die letztgenannten sozialen Verhältnisse aber änderte sich erneut etwas Schritt für Schritt — bei mir: Nicht nur akzeptiere ich meinen Migrationshintergrund voll und ganz. Vor allem in Gesprächen sende ich meist sogenannte Ich-Botschaften. Nicht, weil ich so sehr von mir überzeugt bin, sondern insbesondere bei Kritik sage (und höre) ich auch gern, welche Gefühle ein Verhalten in mir respektive dem Gegenüber auslöst. Spätestens dabei verschwindet dann nämlich auch der Drang, einen anderen Menschen aufgrund äußerer Merkmale zu be- oder gar verurteilen. So lässt es sich mit der GFK meiner Meinung nach im wechselseitigen Gespräch auch besser auf Ziele konzentrieren und macht es einfacher, ein Nein bzw. die Grenzen des Gegenübers zu akzeptieren.

Irgendwann kommt ja dann auch der Tag, an dem die letzte Hausaufgabe fertiggestellt, die letzte Klassenarbeit geschrieben und das letzte Zeugnis überreicht wird. Natürlich geht oder ging es in den (Hoch-)Schulen auch viel darum, komplexe Inhalte für das echte Leben verstanden zu haben. Viele gute Erinnerungen aber haften insbesondere den Momenten an, in denen wir mit anderen Menschen in Kontakt standen, Gespräche führten, inspiriert wurden und unsere ganz eigene Wertschätzung anderen Mitschüler*innen, Kommiliton*innen und Lehrer*innen zukommen ließen.

Genau dies ist es auch, finde ich, was das deutsche Bildungssystem für migrantische Menschen, egal ob wir viele oder nur wenige in einer Klasse sind, verbessern sollte: Sorgt dafür, dass gut ausgebildete Lehrer*innen mit Bedacht unterrichten können, auf dass jeder Mensch lernt, aus der eigenen Position heraus und ohne Angriff zu argumentieren.

Ja, ich bin sogar fest davon überzeugt, dass mittels der GFK die Mehrheit der Menschen in Deutschland weder Migration noch Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland als Probleme betrachten würden, sondern im Gegenteil die kleinen und großen Unterschiede als echte Bereicherung und Chance für die Bewältigung von noch viel größeren Problemen wie z.B. der Klimakrise verstünden. Kommunikation ist also das Fach, bei dem zumindest ich allen von mir besuchten (Hoch-)Schulen bislang nur eine Note 3 geben würde.

 

[1] https://www.zeit.de/2013/28/bildungsungerechtigkeit-bildungspolitik

[2] Rosenberg, Marshall B., Gewaltfreie Kommunikation: eine Sprache des Lebens, Junfermann Verlag GmbH, 2004.

[3] Mark Terkessidis, Interkultur (2010)

 

Dieser Artikel ist einer von zahlreichen Beiträgen, die bei unserem „Call for Contributions“ eingereicht wurden, aber aufgrund der begrenzten Kapazität nicht in unserer neuesten Publikation „Ist Zuhause da, wo die Sternfrüchte süß sind? Viet-deutsche Lebensrealitäten im Wandel“ abgedruckt werden konnten. Wir freuen uns, ihn hier veröffentlichen zu können.

Über den Autor

Geboren im Jahr 1986 in Berlin-Hellersdorf. Khai absolvierte eine kaufmännische Berufsausbildung und im Anschluss zwei Studiengänge an der Humboldt-Universität zu Berlin. Für den M.A. Urbane Geographie lebte und forschte er in Indonesien. Sein Lebensziel ist die Einführung des Grundeinkommens.

In den sozialen Medien findet Ihr ihn bei Twitter unter @wunderlauch